So, zum Abschluss noch etwas Lustiges äh Luftiges
Ach ja, die 1910er. Wie schon gesagt, habe ich mich mit diesem Jahrzehnt etwas schwer getan. Größere Projekte wollte ich nicht, da passten Stoffe und Schnitte einfach nicht zusammen bzw. sind sie auch nicht alle alltagstauglich. Also wollte ich eine Bluse nähen, der Schnitt war dann aber so weit weg vom Bild und der Beschreibung, dass ich für die eine Blusenhälfte alles umrechnete und anzeichnete, das Projekt wegen Umzugs danach ewig im Schrank lag und ich die zweite Hälfte letztendlich nicht mehr rekonstruiert bekam bzw. mir auch die Wahl der labberigen Bettwäsche für eine Bluse immer unsinniger erschien. Also wanderte das Projekt in den Müll (bzw. die zugeschnittenen Stoffstücke in die Quilt-Kiste) und ich suchte noch einmal neu.
Letztendlich wurde ich in meinem jüngsten Neuzugang fündig. Im Februar habe ich auf der Antiquitätenmesse eine Ausgabe von »Mode und Haus« von 1915 gefunden, mit Schnittmusterbogen. Meine Begeisterung wurde getrübt, als ich feststellte, dass der Schnittbogen von 1913 und der Handarbeitsbogen noch einmal von einer anderen Ausgabe (Nr. 15 ohne Jahresangabe, das passte weder zum Heft (Nr. 10) noch zum Schnittmusterbogen (Nr. 20).) stammte. Die Verkäuferin blieb hart beim Preis und letztendlich kaufte ich das merkwürdige Konvolut trotzdem und damit viele hübsche Modezeichnungen ohne die Schnittmuster dazu und einen Haufen sehr kurze Beschreibungen für Kleidungsstücke, die sich in einem Linien-Gewirr verbergen und deren Aussehen ich allenfalls erahnen kann. Ich musste recht grinsen, als ich den Titel »Luftbadehemd« bei einem Schnitt las. Die Sache war klar.
Kurze nerdige Exkursion zum Luftbaden: Mit der zunehmenden Industrialisierung wuchs in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die sogenannte Lebensreformbewegung, ihren Höhepunkt hatte sie etwa in den 1900er und 1910er Jahren, dann kam der 1. Weltkrieg und setzte erst einmal andere Prioritäten. Die Bewegung strebte nach Reformen in verschiedenen Bereichen des Lebens und propagierte unter anderem eine »natürlichere« Lebensweise, vegetarische Ernährung, bequemere Kleidung, Alkoholabstinenz, sportliche Betätigung etc. Auch die vielleicht bekannten Reformkleider der 1900er fallen in dieses Thema. Es ist ein wenig vergleichbar mit heute, wenn wegen all der Bürojobs, Fertigessen und Polyester-Blusen das Internet voll ist mit grünen Smoothies, Sunset Yoga und ungefärbten Leinenhemden.
Aber man muss sich bspw. vergegenwärtigen, dass kurze, luftige Kleidung bei egal welchen Temperaturen gesellschaftlich nicht akzeptiert war, an den Körper kam kaum Luft und auch im Hochsommer trug man lange Hosen und Röcke sowie hochgeschlossene Oberteile. Deshalb wurde nicht nur Sport an der frischen Luft gefordert, sondern auch ganz basal, dass man Luft an den Körper liesse, Luftbaden eben. Wem FKK zu freizügig war oder in sogenannten Naturheilanstalten weilte, der bedeckte sich zum Luftbaden eben als Herr mit Höschen und als Dame mit Luftbadehemd. So, Exkurs zuende.
Eine Zeichnung des Ergebnisses oder der Schnittteile zum Luftbadehemd gibt es nicht auf dem Bogen. Aber das Finden und Nachvollziehen der beiden Schnittteile (Passe sowie Rumpfteil mit angeschnittenen Ärmeln) war nicht so schwierig. Rechteckige Passe und weites Rumpfteil, dass sowohl an den Ärmeln wir auch an Vorder- und Rückseite an die Passe gerafft werden muss (und nein, Luftbadehemd XVI und Luftbadehemd XVII sind nicht dasselbe Hemd in verschiedenen Grössen, das grössere hat eine runde Passe).
Das Rumpfteil verfügt über eine Ansatzlinie für den Ärmel, ich nehme mal an, dass das für schmalere Stoffbahnen gedacht ist, damit man in etwa weiss, wo Stückeln am wenigsten blöd aussieht. Dass bei Röcken und Kleidern nicht die ganze Länge eingezeichnet ist, ist bei so alten Schnitten normal. Allerdings weiss ich normalerweise auch etwa, wo der Saum hin soll. Von Luftbadehemden finde ich keine Fotos oder Zeichnungen, ich habe also keine Ahnung, wie lang das Original sein sollte.
Hier gibt es einige Fotos vom Monte Verità, einem wichtigen Ort der Lebensreform-Bewegung in der Schweiz. Auf dem zweiten Foto sieht man weite Kleider an den Frauen links, gut möglich, dass das Luftbadehemden sind, aber die Übergänge zu Sport- oder anderer Kleidung waren in dieser Umgebung sicherlich fliessend (der Monte Vérita war in den 1900er und 10er Jahren quasi eine Aussteiger-Kommune).
Hier habe ich noch einen Luftanzug gefunden, der ist aufgrund der dazu getragenen Hose recht kurz.
Die Länge meines Hemdes wurde letztendlich vom Stoff bestimmt. Wenn ich mir historische Fotos der Lebensreformer ansehe, war nicht alle Kleidung zwingend weiss, der Anzug oben ist rot, aber farbig bedruckt wie mein Stoff dürfte eher nicht authentisch sein. Das ist ein Baumwoll-Popeline, den es 2013 mal in einer limitierten Auflage in 5m-Ballen bei Ikea gab. Daraus habe ich bereits einmal ein Sommerkleid genäht, weil ich dort so auf das Muster geachtet hatte, hatte ich einen recht unmöglichen Zuschnitt bzw. sehr unglückliche Reststücke übrig, zudem ist der Stoff nur 115 cm breit. Also wurden die Ärmel gemäss der schon erwähnten Linie angestückelt und auch die Rückseite bekam eine Mittelnaht. Kurz hatte ich die ganzen kleinen Reste noch zu einer Saumrüsche angesetzt, das sah aber sehr merkwürdig aus und wurde umgehend wieder rückgebaut (die Reste sind jetzt bei der gestorbenen Bluse in der Quilt-Kiste). Wahrscheinlich ist es ein wenig kürzer als es authentisch gewesen wäre.
Ja, es ist…weit. Gut, es ist Größe II. Davon ausgehend, dass Größe I wohl die kleinste wäre, müsste es sich bei Größe II um was, 38/40 handeln, so grob? Ich nehme an, Größe I wäre auch nicht signifikant schmaler gewesen. Mein Stoff hat relativ viel Stand, aus einem Musselin wäre es natürlich viel weicher gefallen. So steht es etwas ab und ja, ist schon sehr luftig untenrum. Es war vor der ersten grossen Hitzewelle hier Ende Juni fertig und in diesen Tagen leistete es mir wirklich gute Dienste. Dank des älteren Sommerkleides aus demselben Stoff habe ich auch einen passenden Gürtel, so dass ich die Weite bei Bedarf bändigen kann, wenn es sich mir zu freizügig anfühlt. Damit und/oder allenfalls Leggings ist es durchaus auch für einen kurzen Gang zum Bäcker zu gebrauchen, ins Büro wird es aber nicht mitkommen.
So, das war es also, das letzte Projekt in meinem Jahrzehnte-Wip. Ich werde noch einen Abschluss-Post mit kleinem Fazit schreiben. Ob ich tatsächlich ein neues Wip mit Kleinigkeiten nach demselben Schema starte, habe ich noch nicht entschieden. Vielen Dank an euch fürs Lesen, Motivieren und Feedback geben!

Wer also näht, der weiß auch, wie man trennt.
Elizabeth Barrett-Browning
Der Mangel an "ß"s in meinen Posts ist auf die Schweizer Rechtschreibung sowie Tastaturbelegung zurückzuführen.